Auszüge aus fachwissenschaftlichen Werken (Psychologie, Psychoanalyse etc.)

Psychologie der Diskretion [Auszug]

Die Diskretion bedeutet nicht, daß man vor den Geheimnissen des andern Respekt hat, sondern, daß man sich der Kenntnis alles dessen enthält, was der andere positiv nicht offenbaren will. Für unser Bewußtsein liegt um jeden Menschen herum eine ideelle Sphäre, in die einzudringen den Persönlichkeitswert dieses Individuums zerstört. Der Radius jener Sphäre bedeutet die Distanz, in der man sich zu den Menschen halten muß. (…) Der ganze Verkehr der Menschen beruht darauf, daß jeder vom andern etwas mehr weiß, wie ihm der andere offenbaren will. Dies ist unvermeidlich, weil die Enge des Verkehrs darauf beruht, daß man vom andern mehr weiß, als er ihm offenbart hat. Der Mensch nimmt nicht nur das wahr, was ihm der andere mitteilt, sondern auch, was er selbst beobachtet und kombiniert. Dieses Nachgrübeln über die Verborgenheiten eines andern geht oft automatisch unbewußt vor sich. Die Grenze, wo sich die Diskretion der Erfassung alles dessen, was des andern ist, zu enthalten hat, ist schwer zu ziehen. Jedenfalls besteht eine Diskretionspflicht. (274f).

[Zur Frage der Diskretion in Freundschaft und Ehe]

Die strengere Vertrautheit der Freundschaft, in der die Diskretionsfrage keine Rolle zu spielen scheint, scheint mit der wachsenden Differenzierung immer schwieriger zu werden. Die moderne Gefühlsweise scheint eine andere Art von Freundschaft herauszubilden, differenzierte Freundschaften, die nur einzelne Seiten der Persönlichkeit erfassen und die übrigen nicht hineinspielen lassen. Trotz der Einseitigkeit können diese Freundschaften wirkliche Freundschaften sein, denen an Wärme, Treue und Hingabe nichts fehlt, obgleich alle diese Qualitäten in der Form ihrer Einseitigkeit sich offenbaren. Diese Forderungen stellen in der Diskretionsfrage des sich Offenbarens und des sich Verschweigens eigenartige Synthesen, die fordern, daß die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen und Gefühlsgebiete hineinsehen, die nun einmal von der Beziehung ausgeschlossen sind, und ihre Berührung die Grenzen des gegenseitigen sich Verstehens schmerzhaft fühlen ließe. Die so begrenzte und von Diskretion umgebene Beziehung entspricht dem Zentrum der Persönlichkeit, dazu bedarf es nicht der Ergreifung der ganzen Peripherie des Menschen. Die Grenze muß in der Form der Diskretion bewahrt bleiben. Das Problem der Abwechselung des Rhythmus des sich Offenbarens und des Verschweigens, des sich Gehens und sich Zurückhaltens in der Liebe und in der Ehe ist für die soziale Psychologie des intimen Verhältnisses wichtig, ob das Maximum von Gemeinsamswerten dadurch erreicht wird, daß die Persönlichkeiten sich gänzlich aneinander aufgeben, oder umgekehrt durch ein Zurückhalten, ob sie sich nicht qualitativ mehr gehören, wenn sie sich quantitativ weniger gehören. (275f)

[Zur Frage der Diskretion in der Ehe]

Die bloße Tatsache des absoluten Kennens, jenes psychologische Ausgeschöpfthaben, ernüchtert uns auch ohne vorhergegangenen Rausch, es läßt die Lebendigkeit der Beziehungen und läßt die Fortsetzung als etwas zweckloses erscheinen. Dies ist die Gefahr der indiskreten rest- und schamlosen Hingabe, zu der die unbeschränkten Möglichkeiten intimer Beziehungen verführen. Das Tragische oder Tragikomische darin ist, daß diese auf die Länge der Zeit das Verhältnis störende Indiskretion als eine Art Pflicht empfunden wird, nachdem man einmal in das Verhältnis eingetreten ist. An diesem Mangel gegenseitiger Diskretion gehen viele Ehen zugrunde, reizlos, banal, selbstverständlich, ohne Raum für psychologische Ueberraschungen. Bei der Fruchtbarkeit der psychologischen Beziehungen, die hinter jedem letzten ein allerletztes hat, hinter jedem immer etwas Neues vermutet, ist der Lohn: Das Recht auf Wissen, das Recht auf Fragen, wird durch das Recht auf Geheimnis begrenzt. (277)

Anmerkung: Das Werk Georg Simmels ist online abrufbar (Soziologisches Institut der Universität Zürich).

Simmel, Georg (1908): Psychologie der Diskretion. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie [Pathologie und Hygiene] hrsg. von Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaf 8: 274-277 (Text als pdf-Datei; es handelt sich um das Originaldokument. Das online-Dokument - siehe Anmerkung oben - beinhalten einen anderen Text, ich habe das Soziologische Institut der Universität Zürich, Prof. Dr. Hans Geser, auf die Diskrepanz aufmerksam gemacht)

   Deutscher Philosoph und Soziologe (1858-1918)


Psychologie der Diskretion [Auszug]

Wie das materielle Eigentum gleichsam eine Ausdehnung des Ich ist, und wie deshalb jeder Eingriff in den Besitzstand als eine Vergewaltigung der Persönlichkeit empfunden wird, so gibt es ein seelisches Privateigentum, in das einzudringen eine Lädierung des Ich in seinem Zentrum bedeutet.

Diskretion ist nichts anderes las das Rechtsgefühl in Bezug auf die hiermit bezeichnete Sphäre, deren Grenze freilich nicht ohne weiteres festzulegen ist; denn das Recht jenes seelischen Privateigentums kann so wenig unumschränkt bejaht werden wie das des materiellen.

Simmel, Georg (1908): Psychologie der Diskretion. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 8: 274-277 (Text online verfügbar: siehe oben)

   Deutscher Philosoph und Soziologe (1858-1918)


Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [Auszug]

Das Geheimnis enthält eine Spannung, die im Augenblick der Offenbarung ihre Lösung findet.

Dieser bildet die Peripetie in der Entwicklung des Geheimnisses, in ihm sammeln und gipfeln sich noch einmal dessen ganze Reize - wie der Moment des Verschwendens den Wert des Objektes in äußerster Zuspitzung genießen läßt: das mit dem Geldbesitz gegebene Machtgefühl konzentriert sich für die Seele des Verschwenders am vollständigsten und lustvollsten in dem Augenblick, wo er diese Macht aus Händen gibt.
Auch das Geheimnis ist getragen von dem Bewußtsein, es verraten zu können, und damit die Macht zu Schicksalswendungen und Überraschungen, zu Freuden und Zerstörungen, wenn auch vielleicht nur zur Selbstzerstörung. in der Hand zu haben.

Darum umspielt Möglichkeit und Versuchung des Verrates das Geheimnis, und mit der äußeren Gefahr des Entdecktwerdens verschlingt sich diese innere des Sich-Entdeckens, die der Anziehungskraft des Abgrunds gleicht.

Das Geheimnis legt eine Schranke zwischen die Menschen, zugleich aber den verführerischen Anreiz, sie durch Ausplaudern oder Beichte zu durchbrechen - der das psychische Leben des Geheimnisses wie ein Oberton begleitet.

Darum findet die soziologische Bedeutung des Geheimnisses ihr praktisches Maß, den Modus ihrer Verwirklichung, erst an der Fähigkeit oder Neigung der Subjekte, es auch bei sich zu behalten, bzw. an ihrem Widerstand oder Schwäche gegenüber der Versuchung zum Verrate.

Simmel, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [Kapitel V: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft]. Berlin: Duncker & Humblot (1. Auflage): 274f

   Deutscher Philosoph und Soziologe (1858-1918)


Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [Auszug]

Die Chance des Ausplauderns aber ist auf die Unvorsichtigkeit eines Momentes, die Weichheit oder die Erregtheit einer Stimmung, die vielleicht unbewußte Nuance einer Betonung gestellt. 

Die Bewahrung des Geheimnisses ist etwas so Labiles, die Versuchungen des Verrates so mannigfaltig, in vielen Fällen führt ein so kontinuierlicher Weg von der Verschwiegenheit zur Indiskretion, daß das unbedingte Vertrauen auf jene ein unvergleichliches Ueberwiegen des subjektiven Faktors enthält.

Simmel, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [Kapitel V: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft]. Berlin: Duncker & Humblot (1. Auflage): 284

   Deutscher Philosoph und Soziologe (1858-1918)


Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [Auszug]

Angesichts der vorhin angedeuteten Schwierigkeiten, die Zunge wirklich absolut zu hüten, angesichts namentlich der leicht ansprechenden Verbindung, die auf primitiveren Stufen zwischen Gedanken und Äußerung besteht - bei Kindern und bei vielen Naturvölkern ist Denken und Sprechen fast eines - bedarf es zunächst einmal des Schweigenlernens überhaupt, ehe das Verschweigen einzelner bestimmter Vorstellungen erwartet werden kann. (4)

(Fußnote 4):

Wird die menschliche Vergesellschaftung durch das Sprechenkönnen bedingt, so wird. sie - was freilich nur hier und da hervortritt - durch das Schweigenkönnen geformt. Wo alle Vorstellungen, Gefühle, Impulse, ungehemmt als Rede hervorsprudeln, entsteht ein chaotisches Durcheinander, statt eines irgendwie organischen Miteinanders.

Man macht sich diese Notwendigkeit des Schweigenkönnens für die Entstehung eines regulierten Verkehrs selten klar, weil sie uns selbstverständlich ist - obgleich sie zweifellos eine historische Entwicklung hat, die anhebt von dem Geschwätz des Kindes und des Negers, an dem sein Vorstellen auch für ihn selbst erst irgendeine Konkretheit und Selbstsicherheit bekommt und, dem entsprechend, den ungefügen Schweigegeboten, die der Text erwähnt; und die mündet in der Urbanität der hohen gesellschaftlichen Kultur, zu deren vornehmsten Besitzstücken das sichere Gefühl gehört: wo man reden und wo man schweigen muß; daß z. B. in einer Gesellschaft der Wirt sich zurückzuhalten hat, solange die Gäste untereinander die Unterhaltung tragen, dagegen sogleich einzugreifen hat, wenn sich in dieser eine Lücke zeigt.

Eine mittlere Erscheinung mögen etwa die mittelalterlichen Gilden bieten, die statutenmäßig jeden bestrafen, der den Alderman in seiner Rede unterbricht.

Anmerkung 1: Leider werden die klugen Überlegungen durch einen (damals wie heute bestehenden) vorurteilsbehafteten Blick auf Minderheiten, hier sicher auch im historischen Zusammenhang der kaiserlich Kolonialmacht Deutschland, getrübt.

Anmerkung 2: Für PsychoanalytikerInnen, stellt das, was Simmel als Chaos beschreibt: "Wo alle Vorstellungen, Gefühle, Impulse, ungehemmt als Rede hervorsprudeln, entsteht ein chaotisches Durcheinander, statt eines irgendwie organischen Miteinanders." den Zugangsweg zum Unbewußten dar. Natürlich stellt die psychoanalytische Situation keine Alltagssituation dar, in der die 'freie Assoziation' sicher wenig hilfreich wäre 

Simmel, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [Kapitel V: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft]. Berlin: Duncker & Humblot (1. Auflage): 284f

   Deutscher Philosoph und Soziologe (1858-1918)

 

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Schweigepflicht, Datenschutz und Diskretion I Dr. Jürgen Thorwart

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