Humorvolle und nachdenkliche Gedichte und Gedanken über Verschwiegenheit & Schweigen
Lyrik
AUFREIBEND IST ES …
Aufreibend ist es und beschwerlich,
sich zu verweigern dem Herkömmlichen,
Entscheidungen zu durchschauen, die nur
Nuancen sind derselben
Ratlosigkeit.
O die Wahrheit zu wissen, bevor sie
allgemein wird,
Ertragen die lange Schweigepflicht,
bis alle aussprechen,
was dir zu sagen
so schwer fiel,
bis die Wahrheit in aller Munde ist
und dadurch
schon wieder fragwürdig geworden ist
und beinahe falsch.
Sahl, Hans (1999 [1983]): Das Exil im Exil. Frankfurt/M.: Lichterhand: 7
Die Verschwiegenheit
»O Doris! wärst du nur verschwiegen:
So wollt' ich dir etwas gestehn;
Ein Glück, ein ungemein Vergnügen -
Doch nein, ich schweige«, sprach Tiren.
»Wie?« rief die schöne Schäferin,
»Du zweifelst noch, ob ich verschwiegen bin?
Du kannst mir's sicher offenbaren:
Ich schwör', es soll's kein Mensch erfahren.«
»Du kennst«, versetzt Tiren, »die spröde Sylvia,
Die schüchtern vor mir floh, so oft sie mich sonst sah.
Ich komme gleich von dieser kleinen Spröden;
Doch ach! ich darf nicht weiter reden.
Nein, Doris, nein, es geht nicht an;
Es wär' um ihre Gunst und um mein Glück getan,
Wenn Sylvia dereinst erführe,
Daß - dringe nicht in mich, ich halte meine Schwüre.«
»So liebt sie dich?« fuhr Doris fort.
»Jawohl! Doch, sage ja kein Wort!
Ich hab' ihr Herz nun völlig eingenommen
Und itzt von ihr den ersten Kuß bekommen.
Tiren, sprach sie zu mir, mein Herz sei ewig dein;
Doch eines bitt' ich dich, du mußt verschwiegen sein.
Daß wir uns günstig sind, uns treu und zärtlich küssen,
Braucht niemand auf der Flur als ich und du zu wissen.
Drum bitt' ich, Doris, schweige ja!
Sonst flieht und haßt mich Sylvia.«
Die kleine Doris geht. Doch wird auch Doris schweigen?
Ja, die Verschwiegenheit ist allen Schönen eigen.
Gesetzt, daß Doris auch es dem Damöt vertraut,
Was ist es denn nun mehr? Sie sagt es ja nicht laut.
Ihr Schäfer, ihr Damöt, kömmt ihr verliebt entgegen,
Drückt ihre weiche Hand und fragt,
Was ihr sein Freund, Tiren, gesagt?
»Damöt! du weißt ja wohl, was wir zu reden pflegen,
Du kennst den ehrlichen Tiren;
Es war nichts Wichtiges, sonst würd' ich dir's gestehn.
Er sagte mir - verlang' es nicht zu wissen;
Ich hab' es ihm versprechen müssen,
Daß ich zeitlebens schweigen will.«
Damöt wird traurig, schweiget still,
Umarmt sein Kind, doch nur mit halbem Feuer.
Die Schäferin erschrickt, daß sie Damötens Kuß
So unvollkommen schmecken muß.
»Du zürnest«, ruft sie, »mein Getreuer?
O! zürne nicht, ich will es dir gestehn:
Die spröde Sylvia ergiebt sich dem Tiren
Und hat ihm itzt in ihrem Leben
Den allerersten Kuß gegeben;
Allein du mußt verschwiegen sein.«
Damöt verspricht's. Kaum ist Damöt allein,
So fühlt er schon die größte Pein,
Sein neu Geheimnis zu bewahren.
»Ja!« fängt Damöt zu singen an:
»Ich will es keinem offenbaren,
Daß Sylvia Tirenen liebt,
Ihm küsse nimmt und Küsse giebt;
Du, stummer Busch, nur sollst's erfahren,
Wen Sylvia verstohlen liebt.«
Doch ach! In diesem Busch war unsre Sylvia,
Die sich durch dieses Lied beschämt verraten sah
Und eine Heimlichkeit so laut erfahren mußte,
Die ihrer Meinung nach nur ihr Geliebter wußte.
Sie läuft und sucht den Schwätzer, den Tiren.
Ach, Schäfer, ach! wie wird dir's gehn!
»Mich«, fängt sie an, »so zu betrüben!
Dich, Plaudrer, sollt' ich länger lieben?«
Und kurz: Tiren verliert die schöne Schäferin
Und kömmt, Damöten anzuklagen.
»Ja«, spricht Damöt, »ich muß es selber sagen,
Daß ich nicht wenig strafbar bin;
Allein wie kannst du mich den größten Schwätzer nennen?
Du hast ja selbst nicht schweigen können!«
Gellert, Christian Fürchtegott (1746): Werke (hg. v. Gottfried Honnefelder). Frankfurt/M.: Insel 1979. Band 1, 95-97; siehe auch unter wikisource.org (Text und Originalseiten)
Ein gleiches
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Goethe, Johann Wolfgang von (1780): Gedichte (Ausgabe letzter Hand): Aus Wilhelm Meister. Berliner Ausgabe 1960, Band 1, 353
An die Günstigen
Dichter lieben nicht zu schweigen,
Wollen sich der Menge zeigen.
Lob und Tadel muß ja sein!
Niemand beichtet gern in Prosa;
Doch vertraun wir oft sub rosa
In der Musen stillem Hain.
Was ich irrte, was ich strebte,
Was ich litt und was ich lebte,
Sind hier Blumen nur im Strauß;
Und das Alter wie die Jugend,
Und der Fehler wie die Tugend
Nimmt sich gut in Liedern aus.
Goethe, Johann Wolfgang von (1799): Gedichte (Ausgabe letzter Hand): Lieder. Berliner Ausgabe 1960, Band 1, 13f
Mignon
Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;
Ich möchte dir mein ganzes Innres zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht.
Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen;
Der harte Fels schließt seinen Busen auf,
Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.
Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen;
Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu,
Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.
Goethe, Johann Wolfgang von (1827): Gedichte (Ausgabe letzter Hand): Aus Wilhelm Meister. Berliner Ausgabe 1960, Band 1, 353
Verschwiegenheit
Wenn die Liebste zum Erwidern
Blick' auf Liebesblicke beut,
Singt ein Dichter gern in Liedern,
Wie ein solches Glück erfreut!
Aber Schweigen bringet Fülle
Reicheren Vertrauns zurück;
Leise, leise! Stille, stille!
Das ist erst das wahre Glück.
Wenn den Krieger wild Getöse,
Tromml' und Pauken, aufgeregt,
Er den Feind in aller Blöße
Schmetternd über Länder schlägt,
Nimmt er wegen Siegsverheerung
Gern den Ruhm, den lauten, an,
Wenn verheimlichte Verehrung
Seiner Wohltat wohlgetan.
Heil uns! Wir verbundne Brüder
Wissen doch, was keiner weiß;
Ja, sogar bekannte Lieder
Hüllen sich in unsern Kreis.
Niemand soll und wird es schauen,
Was einander wir vertraut:
Denn auf Schweigen und Vertrauen
Ist der Tempel aufgebaut.
Goethe, Johann Wolfgang von (1827): Gedichte (Ausgabe letzter Hand): Loge. Berliner Ausgabe 1960, Band 1, 526
Caput XXV [Auszug]
(...)
Oh, könntest du schweigen, ich würde dir
Das Buch des Schicksals entsiegeln,
Ich ließe dir spätere Zeiten sehn
In meinen Zauberspiegeln.
Was ich den sterblichen Menschen nie
Gezeigt, ich möcht es dir zeigen:
Die Zukunft deines Vaterlands -
Doch ach! du kannst nicht schweigen!«
»Mein Gott, o Göttin!« - rief ich entzückt -
»Das wäre mein größtes Vergnügen,
Laß mich das künftige Deutschland sehn -
Ich bin ein Mann und verschwiegen.
Ich will dir schwören jeden Eid,
Den du nur magst begehren,
Mein Schweigen zu verbürgen dir -
Sag an, wie soll ich schwören?«
Doch jene erwiderte: »Schwöre mir
In Vater Abrahams Weise,
Wie er Eliesern schwören ließ,
Als dieser sich gab auf die Reise.
Heb auf das Gewand und lege die Hand
Hier unten an meine Hüften,
Und schwöre mir Verschwiegenheit
In Reden und in Schriften!«
Ein feierlicher Moment! Ich war
Wie angeweht vom Hauche
Der Vorzeit, als ich schwur den Eid,
Nach uraltem Erzväterbrauche.
Ich hob das Gewand der Göttin auf,
Und legte an ihre Hüften
Die Hand, gelobend Verschwiegenheit
In Reden und in Schriften.
Heine, Heinrich (1844): Deutschland. Ein Wintermärchen. Werke und Briefe (hg. v. H. Kaufmann), 2. Auflage. Berlin: Aufbau 1972. Band 1, 499f
Für die Mouche [Auszug]
(...)
Wir sprachen nicht, jedoch mein Herz vernahm,
Was du verschwiegen dachtest im Gemüte -
Das ausgesprochne Wort ist ohne Scham,
Das Schweigen ist der Liebe keusche Blüte.
Und wie beredsam dieses Schweigen ist!
Man sagt sich alles ohne Metaphoren,
Ganz ohne Feigenblatt, ganz ohne List
Des Silbenfalls, des Wohllauts der Rhetoren.
Lautloses Zwiegespräch! man glaubt es kaum,
Wie bei dem stummen, zärtlichen Geplauder
So schnell die Zeit verstreicht im schönen Traum
Der Sommernacht, gewebt aus Lust und Schauder.
Was wir gesprochen, frag es niemals, ach!
Den Glühwurm frag, was er dem Grase glimmert,
Die Welle frage, was sie rauscht im Bach,
Den Westwind frage, was er weht und wimmert.
Frag, was er strahlet, den Karfunkelstein,
Frag, was sie duften, Nachtviol' und Rosen -
Doch frage nie, wovon im Mondenschein
Die Marterblume und ihr Toter kosen!
(...)
Heine, Heinrich (1856): Nachlese. Werke und Briefe (hg. v. H. Kaufmann), 2. Auflage. Berlin: Aufbau 1972. Band 2, 448f
Geheimnis
Wir seufzen nicht, das Aug' ist trocken,
Wir lächeln oft, wir lachen gar!
In keinem Blick, in keiner Miene,
Wird das Geheimnis offenbar.
Mit seinen stummen Qualen hegt es
In unsrer Seele blut'gem Grund;
Wird es auch laut im wilden Herzen,
Krampfhaft verschlossen bleibt der Mund.
Frag du den Säugling in der Wiege,
Frag du die Toten in dem Grab,
Vielleicht daß diese dir entdecken,
Was ich dir stets verschwiegen hab.
Heine, Heinrich (1856): Zeitgedichte. Werke und Briefe (hg. v. H. Kaufmann), 2. Auflage. Berlin: Aufbau 1972. Band 1, 321f
Die Irren
Und sie schweigen, weil die Scheidewände
weggenommen sind aus ihrem Sinn,
und die Stunden, da man sie verstände,
heben an und gehen hin.
Nächtens oft, wenn sie ans Fenster treten:
plötzlich ist es alles gut.
Ihre Hände liegen im Konkreten,
und das Herz ist hoch und könnte beten,
und die Augen schauen ausgeruht
auf den unverhofften, oftentstellten
Garten im beruhigten Geviert,
der im Widerschein der fremden Welten
weiterwächst und niemals sich verliert.
Rilke, Rainer Maria (1907/08): Der neuen Gedichte anderer Teil. Sämtliche Werke (hg. v. Rilke-Archiv i. V. m. R. Sieber-Rilke, Wiesbaden: Insel 1955-1966. Band 1, 586
Diskretion
Daß Josefine eine schiefe Nase hat;
daß Karlchen eine schwache Blase hat;
daß Doktor O., was sicher stimmt,
aus einem dunkeln Fonds sich Gelder nimmt;
daß Zempels Briefchen nur zum Spaß ein Spaß ist,
und daß er selbst ein falsches Aas ist
in allen sieben Lebenslagen –:
das kann man einem Menschen doch nicht sagen!
Na, ich weiß nicht –
Daß Willy mit der Schwester Rudolfs muddelt;
daß Walter mehr als nötig sich beschmuddelt;
daß Eugen eine überschätzte Charge;
daß das Theater ... dieser Reim wird large ...
daß Kloschs Talent, mit allem, was er macht,
nicht weiter reicht als bis Berlin W 8;
daß die Frau Doktor eine Blähung hat im Magen –:
das kann man einem Menschen doch nicht sagen!
Na, ich weiß nicht –
Man muß nicht. Doch man kann.
Die Basis unsres Lebens
ist: Schweigen und Verschweigen – manchmal ganz vergebens.
Denn manchmal läuft die Wahrheit ihre Bahn –
dann werden alle wild. Dann geht es: Zahn um Zahn!
Und sind sie zu dir selber offen,
dann nimmst du übel und stehst tief betroffen.
Die Wahrheit ist ein Ding: hart und beschwerlich,
sowie in höchstem Maße feuergefährlich.
Brenn mit ihr nieder, was da morsch ist –
und wenns dein eigner Bruder Schorsch ist!
Beliebt wird man so nicht! Nach einem Menschenalter
läßt man vom Doktor O. und Klosch und Walter
und läßt gewähren, wie das Leben will ...
Und brennt sich selber aus. Und wird ganz still.
Na, ich weiß nicht –.
Tucholsky, Kurt (1929): Gesammelte Werke in zehn Bänden (1975). Reinbek bei Hamburg. Band 7: 170-171 [Theobald Tiger: Die Weltbühne, 20.08.1929, Nr. 34, S. 295]
Prosa
Maßnahmen gegen die Gewalt Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um und sah hinter sich stehen - die Gewalt. "Was sagtest du?" fragte ihn die Gewalt. "Ich sprach mich für die Gewalt aus", antwortete Herr Keuner. Als Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr Keuner antwortete: "Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muß länger leben als die Gewalt." Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte: In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem Stand, daß ihm gehören soll jede Wohnung, in die er seinen Fuß setzte, ebenso sollte ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: "Wirst du mir dienen?" Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: "Nein." |
Brecht, Bertolt (1932): Geschichten vom Herrn Keuner. Gesammelte Werke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967. Band 12, 375 |
Dichter, Dramatiker, (1898-1956) |
Die natürliche Tochter [Auszug] GRAF. Die Lippen öffnet ihm der Fürstin Tod, Nun zu bekennen, was für Hof und Stadt Ein offenbar Geheimnis lange war. Es ist ein eigner, grillenhafter Zug, Daß wir durch Schweigen das Geschehene Für uns und andre zu vernichten glauben. KÖNIG. O laß dem Menschen diesen edlen Stolz. Gar vieles kann, gar vieles muß geschehn, Was man mit Worten nicht bekennen darf. |
Goethe, Johann Wolfgang von (1799 - 1803): Die natürliche Tochter - Erster Aufzug. Hamburger Ausgabe 1948. Band 5, 220f |
Dichter, Dramatiker, Theaterleiter, Naturwissenschaftler, Staatsmann (1749-1832) |
Die Wahlverwandschaften [Auszug] Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung. Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich. Die Leidenschaft erhöht und mildert sich durchs Bekennen. In nichts wäre die Mittelstraße vielleicht wünschenswerter als im Vertrauen und Verschweigen gegen die, die wir lieben. |
Goethe, Johann Wolfgang von (1809): Die Wahlverwandschaften - Zweiter Teil. Hamburger Ausgabe 1948. Band 6, 385 |
Dichter, Dramatiker, Theaterleiter, Naturwissenschaftler, Staatsmann (1749-1832) |
West-östlicher Diwan: Einleitung [Auszug] Alles hat seine Zeit! - Ein Spruch, dessen Bedeutung man bei längerem Leben immer mehr anerkennen lernt; diesem nach gibt es eine Zeit zu schweigen, eine andere zu sprechen, und zum letzten entschließt sich diesmal der Dichter. Denn wenn dem früheren Alter Tun und Wirken gebührt, so ziemt dem späteren Betrachtung und Mitteilung. |
Goethe, Johann Wolfgang von (1814-1819): West-östlicher Diwan - Noten und Abhandlungen, Einleitung. Berliner Ausgabe 1960, Band 3, 163 |
Dichter, Dramatiker, Theaterleiter, Naturwissenschaftler, Staatsmann (1749-1832) |
Maximen und Reflexionen [Auszug] In der jetzigen Zeit [1821] soll niemand schweigen oder nachgeben; man muß reden und sich rühren, nicht um zu überwinden, sondern sich auf seinem Posten zu erhalten; ob bei der Majorität oder Minorität, ist ganz gleichgültig. |
Goethe, Johann Wolfgang von (1830): Maximen und Reflexionen - Dritten Bandes erstes Heft 1821. Berliner Ausgabe 1960, Band 18, 499 |
Dichter, Dramatiker, Theaterleiter, Naturwissenschaftler, Staatsmann (1749-1832) |
Wilhelm Meisters Wanderjahre [Auszug] Außerdem hat das Geheimnis sehr große Vorteile: denn wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf alles ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter. Gewissen Geheimnissen, und wenn sie offenbar wären, muß man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen, denn dieses wirkt auf Scham und gute Sitten.« - »Ich verstehe Sie«, versetzte Wilhelm, »warum sollten wir das, was in körperlichen Dingen so nötig ist, nicht auch geistig anwenden? |
Goethe, Johann Wolfgang von (1830): Wilhelm Meisters Wanderjahre (II, 1). Hamburger Ausgabe 1948, Band 8, 150f |
Dichter, Dramatiker, Theaterleiter, Naturwissenschaftler, Staatsmann (1749-1832) |
Seele [Auszug] Schweigen heißt nicht stumm sein (...). Richtiges Schweigen ist das lebendige Gegenspiel des rechten Redens. Es gehört dazu, wie Einatmen zum Ausatmen. (...) Im Reden haben wir Gemeinschaft, durch das Wort empfangen wir und teilen mit. Ohne Sprache würde die innere Welt uns drücken. Das rechte Wort befreit. Aber das rechte muß es sein, und in lebendiger Beziehung stehen zum Schweigen. Das Schweigen ist Quelle des Redens. Man hört es dem Sprechen an, ob es aus der Stille kommt oder nicht. (...) Reden ohne Schweigen wird Geschwätz. (...) Nur wer recht schweigen kann, kann recht sprechen. |
Guardini, Romano (1922): Briefe über Selbstbildung (Achter Brief: Seele, 127-146). Bonner Buchgemeinde 1930, 130f |
Katholischer Religionsphilosoph und Theologe (1885-1968) |
Der Prozeß [Auszug] K. begann sofort zu erzählen, ohne irgend etwas zu verschweigen, seine vollständige Offenheit war der einzige Protest, den er sich gegen des Onkels Ansicht, der Prozeß sei eine große Schande, erlauben konnte. |
Kafka, Franz (1914/15): Der Prozeß. Gesammelte Werke (hg. v. M. Brod). Frankfurt/M.: Fischer 1950 ff. Band 1, 121 |
Schriftsteller, prom. Jurist (1883-1924) |
Die Leute von Seldwyla [Auszug] Wenn die persönlichen Gestalten aus einer Religion hinweggezogen sind, so verfallen ihre Tempel, und der Rest ist Schweigen. Aber die gewonnene Stille und Ruhe ist nicht der Tod, sondern das Leben, das fortblüht und leuchtet, wie dieser Sonntagsmorgen, und guten Gewissens wandeln wir hindurch, der Dinge gewärtig, die kommen oder nicht komme werden. |
Keller, Gottfried (1855): Die Leute von Seldwyla Zweiter Band, Das verlorne Lachen. Sämtliche Werke. Berlin: Aufbau 1961. Band 6, 610 |
Dichter, Politiker (1819 - 1890) |
Das Tagebuch des Verführers [Auszug] Meine Kordelia. Ich habe Dir ein Geheimnis anzuvertrauen, Du Vertraute meines Herzens. Wem sollt' ich's auch anvertrauen? Dem Echo? Das würd' es verraten. Den Sternen? Die sind so kalt. Den Menschen? Die verstehen es nicht. Nur Dir darf ich es anvertrauen; denn Du wirst's bewahren. Ich kenne ein Mädchen, schöner als meiner Seele Traum, reiner als der Sonne Licht, tiefer als des Meeres Quelle, stolzer als des Adlers Flug – ich kenne ein Mädchen – o! neige Dein Haupt meinem Ohr und meiner Rede, daß mein Geheimnis den verborgenen Weg zu Deinem Herzen finde – dieses Mädchen liebe ich mehr als mein Leben, denn sie ist mein Leben; mehr als alle meine Wünsche, denn sie ist mein einziger Wunsch; wärmer als die Sonne die Blume liebt; inniger als das Leid die bekümmerte Seele in ihrer Einsamkeit; sehnsuchtsvoller als der brennende Sand der Wüste den Regen liebt – ja zärtlicher als das Auge der Mutter auf ihrem Kinde ruht; vertrauensvoller als die Seele des Betenden zu Gott emporschaut; unzertrennlicher als die Pflanze mit ihrer Wurzel verbunden ist. – Dein Haupt wird schwer und gedankenvoll, es sinkt auf die Brust herab, der Busen hebt sich, um ihm zur Hilfe zu kommen – meine Kordelia! Du hast mich verstanden! Willst Du dieses Geheimnis bewahren? Darf ich Dir vertrauen? Man erzählt sich von Menschen, die durch schreckliche Verbrechen aneinander gefesselt einander ewiges Schweigen gelobten. Dir habe ich ein Geheimnis anvertraut, das mein Leben und der ganze Reichtum meines Lebens ist. Hast Du mir nichts anzuvertrauen, das so bedeutungsvoll, so schön, so keusch ist, daß übernatürliche Kräfte sich regen müßten, wenn es verraten würde? Dein Johannes. |
Kierkegaard, Sören (1843): Das Tagebuch des Verführers: 304. In: Søren Kierkegaard: Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885. Erstdruck: Kopenhagen 1843 (unter dem Pseudonym Victor Eremita). Der Text folgt der ersten deutschen Übersetzung durch Alexander Michelsen und Otto Gleiß von 1885. Originaltitel: Enten-eller. Et Livs-Fragment, udgivet af Victor Eremita; online: www.zeno.org |
Dänischer Philosoph, Essayist, Theologe und religiöser Schriftsteller (1813 - 1855) |
Die Fackel Ich bin jederzeit bereit, was ich einem Freunde unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitteile, zu veröffentlichen. Geheimnisse vor Einzelnen müssen nicht Geheimnisse vor der Öffentlichkeit sein. Bei dieser sind sie besser aufgehoben, weil man hier selbst die Form der Mitteilung bestimmt. Wem die Form den Inhalt bedeutet, der gibt das Wort nicht aus der Hand. Er kann sich getrost Geheimniskrämerei oder äußerste Schamlosigkeit vorwerfen lassen, oder beides zugleich. |
Kraus, Karl (1908): Die Fackel, Heft 251-252 (24.04.1908), 34 |
Schriftsteller, Publizist, Satiriker (1874 - 1936) |
[Notizbucheintragung] Es giebt bei jeder Handlung 1) das wirkliche Motiv das verschwiegen wird 2) das präsentable eingeständliche Motiv. Letzteres geht von uns aus, von unserer Freude, unserem Individuum, wir stellen uns individuell damit. Ersteres aber hat die Rücksicht auf das, was die Andern denken, wir handeln, wie jeder handelt, wir präsentiren uns als Individuen, aber handeln als Gattungswesen. Komisch! Z. B. ich suche ein Amt 2) "ich bin es mir schuldig, mich nützlich zu machen" 1) „Ich will meines Amtes wegen von den Andern respektirt werden. |
Nietzsche, Friedrich (1880): Notizbücher aus den Jahren 1880-1882 (Fragment 109 aus Notizbuch 1) |
Philosoph (1844 -1900) |
Jenseits von Gut und Böse [Auszug] Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen wenige je gelangen und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen: seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wiedereroberte eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgner, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mitteilung, will es und fördert es, daß eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herumwandelt; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehn, daß es trotzdem dort eine Maske von ihm gibt - und daß es gut so ist. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er gibt. - |
Nietzsche, Friedrich (1886): Jenseits von Gut und Böse - 2. Der freie Geist. Werke (hg. v. K. Schlechta). München: Hanser 1954. Band 2, 603f |
Philosoph (1844 -1900) |
Jenseits von Gut und Böse [Auszug] Es gibt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu erschließen -solche, die wir nie sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein Gleichnis; und ein Moral-Psycholog liest die gesamte Sternenschrift nur als eine Gleichnis- und Zeichensprache, mit der sich vieles verschweigen läßt. |
Nietzsche, Friedrich (1886): Jenseits von Gut und Böse - 5. Zur Naturgeschichte der Moral. Werke (hg. v. K. Schlechta). München: Hanser 1954. Band 2, 653 [Nr. 196] |
Philosoph (1844 -1900) |
Don Carlos [Auszug] LERMA: Oft sogar ist es weise, zu entdecken, Was nicht verschwiegen bleiben kann. |
Schiller, Friedrich (1782 - 1787): Don Carlos - 4. Akt. Sämtliche Werke (hg. v. G. Fricke und H. G. Göpfert, München: Hanser, 3. Auflage 1962. Band 2, 140 |
Dichter, Dramatiker, Philosoph, Historiker (1759 - 1805) |
Über epische und dramatische Dichtung [Auszug] Der zuschauende Hörer muß von Rechts wegen in einer steten sinnlichen Anstrengung bleiben, er darf sich nicht zum Nachdenken erheben, er muß leidenschaftlich folgen, seine Phantasie ist ganz zum Schweigen gebracht, man darf keine Ansprüche an sie machen, und selbst was erzählt wird, muß gleichsam darstellend vor die Augen gebracht werden. Anmerkung: Eine bemerkenswerte Überlegung im Hinblick auf die ein Jahrhundert später entstandenen psychoanalytischen Konzepte der freischwebenden Aufmerksamkeit (Freud), des Hörens mit dem dritten Ohr (Reik) und der Bion'schen Haltung 'without memory and desire'. |
Schiller, Friedrich und Goethe, Johann Wolfgang von (1797): Über epische und dramatische Dichtung. F. Schiller: Sämtliche Werke (hg. v. G. Fricke und H. G. Göpfert. München: Hanser, 3. Auflage 1962. Band 5, 792) |
Dichter, Dramatiker (1759 - 1805) und (1749-1832) |
Schweigepflicht, Datenschutz und Diskretion I Dr. Jürgen Thorwart |