Psychodynamik

Verletzungen der beruflichen Schweigepflicht sind entgegen der Beteuerungen einschlägiger Berufsverbände (Berufsordnungen) und psychosozialer bzw. medizinischer Institutionen (Einrichtungsbroschüren) an der Tagesordnung: Sie geschehen beispielsweise im Zusammenhang

Mit Ausnahme weniger Gerichtsverfahren werden Verletzungen von Privatgeheimnissen juristisch nicht geahndet – es handelt sich um ein Antragsdelikt – und auch in der Fachöffentlichkeit wird die Tatsache von Verletzungen der Schweigepflicht und deren (unbewußte) Hintergründe und Bedeutung kaum diskutiert, obwohl deren Existenz kaum zu leugnen ist. Bereits Freud, dem das Verdienst eines sorgsam bedachten, diskreten Umgangs mit den ihm anvertrauten Geheimnissen zukommt, ließ sich zu – recht drastischen – Verletzungen der Diskretion verleiten, die letztlich nur auf dem Hintergrund der sich zwischen den Beteiligten entfaltenden Beziehungsdynamik und des Agierens unerträglicher Ohnmacht- und Wutgefühle verständlich sind. Auch das für die Problematik der (innerinstitutionellen) Schweigepflicht einschlägige Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts (1994) läßt die Verletzung der Vertraulichkeit als Kulminationspunkt einer Verstrickung des beteiligten Psychologen und der von ihm betreuten Bewohnerin einer Außenwohngruppe deuten (Thorwart 1998).

Entgegen der weitverbreiteten Auffassung unter Juristen und Angehörigen schweigepflichtiger Berufsgruppen ist die Problematik der beruflichen Schweigepflicht keineswegs mit einer Fokussierung juristischer Dimensionen ausreichend erfaßt. Vielmehr ist der Umgang mit anvertrauten Geheimnissen eng verknüpft mit beziehungs-dynamischen, methodischen und letztlich auch ethischen Fragen. Dies sei nachfolgend an zwei Beispielen erläutert.

Arbeitsrechtliche Konflikte hinsichtlich der Schweigepflicht werden vielfach im Zusammenhang mit dem von Arbeitgebern (bzw. Vorgesetzten) geforderten Einblick in Patienten- bzw. Klientenakten angestellter Mitarbeiter (vorwiegend Psychologen) ausgetragen – neuerdings auch in Zusammenhang mit der Erfassung der Rufnummern von Hilfesuchenden. Dabei wird zumeist 'übersehen', daß das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung alleine den Klienten das Recht der Entscheidung über die Offenbarung ihrer Daten und Geheimnisse einräumt. Fragen der (innerinstitutionellen) Schweigepflicht werden auf diese Weise dazu benutzt, Konflikte zwischen Arbeitgebern und Untergebenen auszutragen. Die Berufung auf ein (imaginäres) Schweigerecht i.S. der Abwehr von Mitarbeitern gegen Eingriffe in ihre fachliche Tätigkeit stellt ebenso wie der Versuch des Arbeitgebers seine Untergebenen mittels dienstlicher Anweisungen zum Bruch ihrer Schweigepflicht zu zwingen einen mißbräuchlichen Eingriff in Grundrechte der Hilfesuchenden dar. Auf konstruktive Weise wäre dem legitimen Ansinnen der Ausübung fachlicher Kontrolle über anonymisierte Falldarstellungen (z.B. schriftliche Aufzeichnungen über anamnestische Daten, diagnostische Überlegungen und therapeutische Interventionen), im Ausnahmefall auch mittels eines – mit dem Einverständnis der Betroffenen erfolgenden – Einblicks in schriftliche Behandlungsunterlagen Rechnung zu tragen.

Auch im Zusammenhang gruppendynamischer Prozesse können Fragen der Schweigepflicht eine bedeutsame Rolle annehmen. So besteht in Teambesprechungen zuweilen die Tendenz, Geheimnisse der Klienten bzw. Patienten in Form einer psychopathologischen Datensammlung zusammenzutragen. Gruppendynamisch ist die schrankenlose und nicht kritisch reflektierte Offenbarung anvertrauter Informationen geeignet, kohäsive Prozesse innerhalb therapeutischer Teams zu fördern. Etwaige Konflikte innerhalb der Gruppe (beispielsweise im Zusammenhang mit den oft rigiden Machtstrukturen in klinisch-stationären Einrichtungen) können so über die gemeinsame grenzverletzende Bloßstellung der als schwierig empfundenen Patienten bzw. Klienten – unter Hinweis auf deren 'Wohl' – projektiv verschoben werden.

Eine besondere Konstellation ergibt sich, wenn Informationen einzelner (mitbehandelnder) Mitarbeiter unter Bezugnahme auf die ihnen auferlegte Schweigepflicht zurückgehalten werden, dies aber nicht auf Drängen der Klienten bzw. Patienten als vielmehr im Dienste einer bewußten oder unbewußten Identifizierung mit diesen geschieht. In diesem Fall nimmt die Berufung auf ein Verschwiegenheitsrecht beziehungsdynamisch den Charakter einer Abschottung der 'guten' dyadischen Interaktion mit den Patienten gegen den als störend (oder bevormundend, kränkend, entwertend) empfundenen 'bösen' Dritten (z.B. Abteilungsarzt). Der bestehende (trianguläre) Beziehungskonflikt wird auf diese Weise auf eine sachlich-juristische Ebene verschoben.

Verletzungen der Schweigepflicht sollten immer Anlaß und Ausgangspunkt der Reflexion möglicher Gegenübertragungsängste und des Agierens dieser Ängste sein. Gelingt es, deren aggressiven, Distanz herstellenden oder trennenden Charakter auf dem Hintergrund der therapeutischen Beziehung und ggf. auch der Beziehungen zwischen anderen Beteiligten (z.B. SupervisionsteilnehmerInnen, KollegInnen etc.) wahrzunehmen, trägt dies nicht nur zu einer Vermeidung weiterer Verletzungen, sondern auch zu einem vertieften Verständnis der im therapeutischen Prozeß aufgetretenen Schwierigkeiten und damit auch der Ängste und Beeinträchtigungen der PatientInnen bei.

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Schweigepflicht, Datenschutz und Diskretion I Dr. Jürgen Thorwart

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