Bayerisches Oberstes Landesgericht (BayObLG): Beschluß vom 8.11.1994

Anmerkung zu den Vorinstanzen:

Amtsgericht:       Verurteilung zu einer Geldstrafe in Höhe von 75 Tagessätzen zu 50 DM.

Landgericht:        Die vom Angeklagten angestrengte Berufung führte zum Freispruch.

BayObLG:           Wegen der Verletzung sachlichen Rechts legte die Staatsanwaltschaft Revision gegen das Urteil ein. Diese führte zur Aufhebung des Urteils des LG und zur Rückverweisung an eine andere Kam-mer desselben Landgerichts.

Wegen der Rücknahme der Strafanzeige durch die Geschädigte (Antragsdelikt § 205 StGB!) stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren schließlich ein.

Im Original der nachfolgenden Entscheidung des (BayObLG) fehlt der Name des Angeklagten sowie der Verteidigerin, der Name der Zeugin wurde mit Ausnahme der ersten beiden Anfangsbuchstaben des Nachnamens geschwärzt. Gemäß richterlichem Auftrag darf die Entscheidung nur so verwertet werden, daß die Beteiligten nicht erkennbar sind. Die Namen der Richter, des Staatsanwaltes und der Urkundsbeamtin sind im Unterschied zum Original lediglich mit dem Anfangsbuchstaben des Nachnamens gekennzeichnet. Den im Urteil ersichtlichen Gerichtsstand des zuständigen Landgerichtes der Vorinstanz habe ich mit dem entsprechenden Anfangsbuchstaben des Ortes gekennzeichnet.

Bayerisches Oberstes Landesgericht

B E S C H L U S S

Der 2. Strafsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts hat in dem Strafverfahren gegen

(...)

wegen Verletzung von Privatgeheimnissen

aufgrund der Hauptverhandlung in der öffentlichen Sitzung vom
8. November 1994, an der teilgenommen haben

1.  als Richter der Vorsitzende Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht K. sowie die Richter
     am Bayerischen Obersten Landesgericht H. und Dr. R.

2.  als Beamter der Staatsanwaltschaft Oberstaatsanwalt D.

3.  als Verteidigerin Rechtsanwältin (...)

4.  als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle Amtsinspektorin (...)

 

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für Recht erkannt:

I.   Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts W. vom 21. April 1994 mit den Feststellungen aufgehoben.

II.  Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts W. zurückverwiesen.

G r ü n d e :

I.

Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 Abs. 1 Nr. 2 StGB) zur Geldstrafe von 75 Tagessätzen zu 50 DM. Das Landgericht sprach ihn auf seine Berufung hin frei.

 

Mit der Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung sachlichen Rechts.

II.

Das zulässige Rechtsmittel führt zum Erfolg; das angefochtene Urteil hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

1.  Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte, von Beruf Diplom-Psychologe, als Therapeut in dem von der Arbeiterwohlfahrt betriebenen Heim angestellt, zuletzt als Erziehungsleiter. In dem Heim wurden psychisch gestörte, schwer erziehbare Jugendliche betreut.

 

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Im April 1991 übernahm er die Therapie der "inzwischen" 21 Jahre alten Zeugin. Diese wies Borderline-Persönlichkeitsstörungen, geringe Belastbarkeit und starke affektive Impulsivität auf. Unter Druck und Spannungen kam es zu autoaggressiven Handlungen, z.B. brachte sie sich Ritze oder Schnitte im Bereich der Unterarme bei, äußerte auch Selbstmordgedanken, denen im Jahre 1991 einmal entsprechende Handlungen folgten. Der Angeklagte kam zu der Ansicht, Ursache dieser psychischen Störungen seien "sexuelle Mißbrauchserfahrungen", wenngleich diese Symptome gelegentlich auch andere Ursachen hätten. Etwa im Juli 1991 verließ die Zeugin das Heim und wechselte in das sogenannte außenbetreute Wohnen. Sie wurde aber weiterhin als Patientin des Angeklagten psychotherapeutisch und pädagogisch durch das Heim betreut.

Am 2.2.1993 eröffnete die Zeugin dem Angeklagten bei einer von ihr erbetenen außerplanmäßigen Unterredung - nachdem sie ihn zuvor gefragt hatte, ob er zur Verschwiegenheit verpflichtet sei -, daß sie in der Zeit seines Urlaubs sexuelle Beziehungen zum Heimleiter, der sie in dieser Zeit betreut hatte, aufgenommen habe. Der Angeklagte war der Meinung, diese Beziehungen könnten schwerste psychische Störungen zur Folge haben, auch Suizidgefahr hielt er für nicht ausschließ-bar. Zudem erschien es ihm unerträglich, daß dem Heim ein Leiter vorstand, der selbst sexuelle Kontakte zu den Schutzbefohlenen aufnahm. Am 9.2.1993 trug der Angeklagte den Fall der Supervision vor, einem Gremium von Therapeuten des Heimes, dem er selbst und zwei Diplom-Pädagogen angehörten, die ebenso wie er selbst zur Verschwiegenheit verpflichtet waren.

 

 

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2.  Das Landgericht hat angenommen, der Angeklagte habe zum Teil nicht unbefugt, zum Teil jedenfalls in nicht vermeidbarem Verbotsirrtum gehandelt. Diese Annahme findet jedoch in den Urteilsgründen keine Stütze.

a) Daß der Angeklagte mit der Weitergabe des ihm in seiner Eigenschaft als Diplom-Psychologe und Therapeut von der Zeugin (...) Anvertrauten ein fremdes, zum persönlichen Lebensbereich der Zeugin gehörendes Geheimnis offenbart hat im Sinne von § 203 Abs. 1 Nr. 2 StGB, ist so offensichtlich, daß es keiner näheren Erörterung bedarf. Lediglich auf die Frage, ob der Tatbestand deshalb ausgeschlossen ist, weil die Mitteilungsempfänger ebenfalls zum Schweigen verpflichtet waren, ist im Hinblick auf die Darlegung der Verteidigung einzugehen. Diese Frage ist zu verneinen.

Keines der Merkmale des objektiven Tatbestandes des § 203 Abs. 1 Nr. 2 StGB wird dadurch ausgeschlossen, daß der Empfänger der Mitteilung seinerseits schweigepflichtig ist. Dies gilt insbesondere für das Merkmal "offenbart". Unter Offenbaren ist jede Mitteilung über die geheim-zuhaltende Tatsache an einen Dritten zu verstehen, der das Geheimnis noch nicht oder noch nicht sicher kennt (Lackner StGB 20. Aufl. § 203 Rn. 17; Dreher/Tröndle StGB 46. Aufl. § 203 Rn. 26 m.w.Nachw.). Es versteht sich von selbst, daß von dieser Definition auch die Weitergabe des Geheimnisses an einen Schweigepflichtigen erfaßt wird. Angesichts der nicht eingrenzbaren Vielzahl von Personen, die einer Schweigepflicht unterworfen sind, wäre im übrigen der Schutz des § 203 StGB illusorisch, wollte man die Mitteilung an jede von ihnen als nicht tatbestandsmäßig ansehen. In der Literatur besteht demzufolge Einigkeit

 

 

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darüber, daß es für die Erfüllung des Tatbestandes des § 203 StGB unerheblich ist, ob der Empfänger der Mitteilung seinerseits schweigepflichtig ist, sofern er nur außerhalb des Kreises steht, dem das Geheimnis bisher schon zugänglich war (vgl. statt vieler LK/Jähnke StGB 10. Aufl. § 203 Rn. 40; Lackner aaO; Dreher /Tröndle aaO; Schönke/Schröder/Lenckner StGB 24. Aufl. § 203 Rn. 19; speziell zur Schweigepflicht des Berufspsychologen: Kühne NJW 1977, 1478/1482). In der Rechtsprechung wird - soweit ersichtlich - dieselbe Auffassung vertreten (OLG Stuttgart NJW 1987, 1490 f.; OVG Lüneburg NJW 1975, 2263 f.; VG Münster MedR 1984, 118 f.). Dies gilt auch für die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Soweit die Verteidigung meint, der Bundes-gerichtshof sehe die Weitergabe eines Geheimnisses an einen schweigepflichtigen Empfänger als nicht tatbestandsmäßig an, dürfte dies auf einem Mißverständnis des als Beleg angeführten Urteils (BGHSt 4, 355 f.) beruhen. In dieser Entscheidung hat der Bundesgerichtshof im Sinne von § 59 a.F. StGB einen schuldausschließenden Tatbestandsirrtum angenommen, weil der Täter an die Voraussetzungen einer ihn rechtfertigenden Situation glaubte. In späteren Entscheidungen wird deutlich, daß der Bundesgerichtshof die Weitergabe eines Geheimnisses an einen Schweige-pflichtigen als tatbestandsmäßig im Sinne von § 203 StGB ansieht; denn andernfalls hätte er - z.B. bei der Bewertung von Praxisübernahmen (vgl. BGH NJW 1974, 602) - nicht auf das Rechtsinstitut der mutmaßlichen Einwilligung zurückgreifen müssen. In jüngster Zeit hat der Bundesgerichtshof ausdrücklich hervorgehoben, daß es für die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 203 Abs. 1 StGB unerheblich ist, daß die Weitergabe an eine Person erfolgt, die gleichfalls der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt (BGHZ 116, 269/272).

 

 

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b) Dem Urteil kann nicht entnommen werden, unter welchem rechtlichen Gesichtspunkt das Landgericht die Offenbarung als "nicht unbefugt" angesehen hat. Anhaltspunkte dafür, daß die Zeugin konkludent ihr Einverständnis mit der Weitergabe des dem Angeklagten Anvertrauten an die Mitglieder der Supervision erteilt hätte (vgl. VG Münster aaO, S.119; Schönke/Schröder/Lenckner aaO Rn. 24), finden sich im Urteil nicht. Die Zeugin hat sich vor ihrer Offenbarung gegenüber dem Angeklagten dessen Schweigepflicht versichert; es drängt sich daher auf, daß sie damit jedwede Weitergabe untersagen wollte. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, daß der Angeklagte - wie das Landgericht festgestellt hat - ihr nicht zugesichert hat, in jedem Fall zur Verschwiegenheit verpflichtet zu sein. Entscheidend ist, was er ihr gesagt hat; dazu enthält das Urteil keine Fest-stellungen. Die Ausführungen unter III. 1. (BU S. 6/7) lassen nur vermuten, daß das Landgericht § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) im Auge hatte. Unter diesem Gesichtspunkt sind die getroffe-nen Feststellungen jedoch lückenhaft und die Erwägungen des Landgerichts unzureichend.

Die für die Anwendung des § 34 StGB vorauszusetzende Notstandslage hat das Landgericht offenbar in einer Gefahr für die Psyche, möglicherweise auch für das Leben der Zeugin (Suizid-gefahr) gesehen. Daß eine gegenwärtige Gefahr in dieser Hinsicht tatsächlich bestand, hat es jedoch nicht festgestellt.

Gefahr ist ein Zustand, in dem nach den konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens nahe liegt (Lackner aaO § 34 Rn. 2; LK/Hirsch StGB 11. Aufl. -13. Lieferung - § 34 Rn. 26). Eine Gefahr ist gegenwärtig, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines

 

 

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Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden oder wenn der ungewöhnliche Zustand nach menschlicher Erfahrung und natürlicher Weiterentwicklung der gegebenen Sachlage jederzeit in einen Schaden umschlagen kann (BGH NJW 1989, 176). Eine gegenwärtige Gefahr in diesem Sinne hat das Landgericht nicht festgestellt. Soweit es ausführt "Das Ereignis, daß der Heimleiter sexuelle Kontakte zu der Zeugin aufgenommen hatte, konnte die vom Angeklagten befürchteten psychischen Folgen haben", spricht es damit nur die Möglichkeit, nicht aber die Wahrscheinlichkeit oder gar die Gewißheit eines Gesundheitsschadens an.

Zudem bleibt offen, auf welcher tatsächlichen Grundlage die Annahme des Landgerichts beruht, das fragliche Ereignis könne die vom Angeklagten befürchteten "psychischen Folgen" haben. Das Landgericht teilt allein die Einschätzung des Angeklagten selbst mit, nach der die Ursache der psychischen Störungen der Zeugin (möglicherweise) in "sexuellen Mißbrauchserfahrungen" liege und die sexuelle Beziehung der Zeugin zum Heimleiter "im Sinne der Psychologie" einen sexuellen Mißbrauch darstellen könne. Eine Auseinandersetzung damit, ob diese Einschätzung zutrifft, fehlt. Maßstab für die Beurteilung der Frage, ob im Zeitpunkt des Handelns des Angeklagten eine gegenwärtige Gefahr im Sinne von § 34 StGB vorlag, ist die objektive nachträgliche Prognose eines sachkundigen Beobachters (LK/Hirsch aaO Rn. 29; Lackner aaO Rn. 2). Daß das Landgericht über die erforderliche Sachkunde verfügte, läßt sich dem Urteil nicht entnehmen.

 

 

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Das angefochtene Urteil läßt ferner eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, ob die - angenommene - Gefahr durch ein anderes, milderes Mittel als die Offenbarung des Geheimnisses hätte abgewendet werden können. Dies ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Der Angeklagte hatte die Zeugin zuvor schon behandelt, wobei er ebenfalls von der Möglichkeit "sexueller Mißbrauchserfahrungen" ausging. Offenbar war die Therapie erfolgreich; darauf läßt die Tatsache schließen, daß die Zeugin das Heim wenige Monate nach Beginn der Behandlung durch den Angeklagten verlassen konnte. Es ist deshalb nicht von vornherein auszuschließen, daß der Angeklagte aufgrund seiner eigenen therapeutischen Fähigkeiten die von ihm angenommene Gefahr, nach seiner Ansicht begründet durch sexuellen Mißbrauch der Zeugin, hätte abwenden können. In erster Linie hätte sich dem Angeklagten aufdrängen müssen zu explorieren, ob tatsächlich Anhaltspunkte für die von ihm angenommene Gefährdung der Zeugin zu finden waren. Dies ist nach dem Urteilsinhalt nicht geschehen; danach hat der Angeklagte sich auf bloße theoretische Überlegungen beschränkt. Zudem hat das Landgericht nicht in Betracht gezogen, ob der Angeklagte sich an eine externe Supervision hätte wenden müssen, weil dadurch die Anonymität der Zeugin hätte gewahrt werden können.

Schließlich hat das Landgericht nicht erwogen, ob das geschützte Interesse (Abwehr "psychischer Folgen") das beeinträchtigte (Geheimhaltung) wesentlich überwiegt, wie die Anwendung des
§ 34 StGB voraussetzt. Insoweit hätte eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung aller für die Bewertung bedeutsamen Umstände vorgenommen werden müssen (Dreher/Tröndle aaO § 34 Rn. 8 ff.).

 

 

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c)  Rechtlichen Bedenken begegnet schließlich auch die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe "zumindest" in einem entschuldbaren Verbotsirrtum gehandelt, soweit er mit der Offenbarung des Geheimnisses die Absicht verfolgte zu erörtern, ob der Heimleiter wegen der sexuellen Beziehung zur Zeugin noch als solcher tragbar sei (III. 2. des Urteils = BU S.7). Diese Wertung ist schon im Ansatz, verfehlt. Eine Aufspaltung des Verhaltens des Angeklagten in zwei unterschiedlich zu beurteilende Komplexe ist nicht zulässig. Der Angeklagte hat durch eine Handlung nur ein Geheimnis offenbart. Dieses Verhalten kann nur insgesamt entweder befugt oder unbefugt sein; nur im letzteren Falle könnte sich die Frage eines Verbotsirrtums stellen. Bei zutreffender Bewertung - die offensichtlich auch der Sachverhaltsdarstellung des Urteils zugrunde liegt (BU S. 5 Nr. 3) - dürfte das Verhalten des Angeklagten darauf hinauslaufen, daß er mit dem einen Geheimnisbruch zwei von ihm angenommene Gefahren abwenden wollte, nämlich die der Zeugin drohende sowie die für den Ruf des Heimes. Das Verhalten des Angeklagten hätte somit insgesamt unter dem Blickwinkel des § 34 StGB gewertet werden müssen.

Im übrigen genügen die Ausführungen des Landgerichts nicht den strengen Maßstäben, die nach der Rechtsprechung an die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums zu legen sind, wenn der Täter - wie hier der Angeklagte hinsichtlich der Befugnis zur Offenbarung - keine Auskunft eingeholt hat (vgl. BayObLGSt 1988, 139 m.w.Nachw.). Daß es - sei es beim Träger des Heimes, der Arbeiterwohlfahrt, oder außerhalb, z.B. in der Anwaltschaft - niemanden geben sollte, der zur Frage der Befugnis einen verläßlichen Rechtsrat erteilen könnte, wie das Landgericht meint, ist nicht nachvollziehbar.

 

 

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III.

Wegen dieser Mängel ist das Urteil mit den Feststellungen aufzuheben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts W. zurückverwiesen.

K.                                                 H.                                     Dr. R.